Fast & Furious IX – Novice Nightmare

Unsere Miniserie über Gebräuche und Sitten im Straßenverkehr in anderen Ländern bekommt eine weitere Folge. Nach den persischen Hochgeschwindigkeitsrowdys und den nepalesischen Transportgangstern geht es heute um ein paar Beobachtungen auf Chinas Straßen.

Die chinesischen Verkehrsteilnehmer lassen sich in die drei klassischen Gruppen einteilen. Die erste und zahlenmäßig größte Gruppe sind Heerscharen an Zwei- und Dreirädern, motorisiert, elektrisiert, fußbetrieben. In die zweite Gruppe fallen die großen, also Trucks und Busse aller Couleur. Die kleinste aber sehr schnell wachsende Gruppe sind private PKW.
So weit, so unspannend. Doch 6.500 Kilometer Fahrt auf chinesischen Straßen bieten viel Gelegenheit für ein paar interessante Beobachtungen.

Der Klassiker: drauf was drauf passt

Der Klassiker: drauf was drauf passt

Gruppe eins ist ungemein typisch für Asien und daher nicht weiter charakteristisch für China. Alles, was irgendwie auf ein Moped passt, wird auch hierzulande aufgesattelt, drei Kinder, zwei Ziegen, ein Kühlschrank, kein Problem. Rikschas sind im wahrsten Sinne des Wortes Lastwägen und damit das Rückgrat der lokalen Mikrologistik.
Eine Sache ist allerdings angenehm überraschend in China. Fast alle dieser Zwei- und Dreiräder fahren mit Elektromotor. Vorbei die Zeiten von Lärm und Zweitaktgestank in den Städten. Lautlos, beinahe gefährlich lautlos, bewegt sich die moderne Rollerarmee durch Chinas Städte. Wer sagt eigentlich, dass man sich kein Beispiel an den Chinesen nehmen kann? Unseren selbsternannten Ökostädten täten so ein paar E-Roller auch ganz gut. Vielleicht müssen die aber erst hip und retro und von Vespa sein.

Der zweite LKW würde nur die Transportkosten erhöhen

Der zweite LKW würde nur die Transportkosten erhöhen

Gruppe zwei sind die Chefs der Landstraße. Wie in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern herrscht auch in China auf der Straße Darwinismus. Der größere gewinnt, und Vorfahrt hat, wer beim anderen mehr Schaden anrichten kann. Das wird von allen verstanden und gnadenlos praktiziert. Kompressorhupen sind Meinungsverstärker und letzte Warnung zugleich – wer weggehupt wurde und noch immer im Weg ist, hat die längste Zeit auf seiner Vorfahrt beharrt.
Hinzu kommen die Zahlenverhältnisse. Reisebusse sind Verkehrsmittel Nummer eins, egal ob für den Besuch zu Hause im Dorf oder für den gigantischen Inlandstourismus. 1,4 Milliarden Chinesen brauchen daher eine Menge Busse.
Für jeden Bus gibt es aber gefühlte 10 LKW. Denn das chinesische Wirtschaftswunder muss transportiert werden. Ob Kohle, Stahl und Aluminium, Tanks, Maschinen und Fabrikanlagen oder 40 fabrikneue VWs zweireihig auf dem Autotransporter, das rollende Inventar auf Chinas Straßen ist kolossal und aufschlussreich zugleich. Man merkt zum Beispiel schon früh, dass man sich einem Zementwerk oder Kohlekraftwerk nähert, weil Kolonnen an grau- oder schwarzgepuderten LKW die Straßen säumen und ihre Ladung fein dosiert auf die umliegenden Städte und Dörfer verteilen. Bemerkenswert sind auch die Zuladungen. Es gibt 50- und 60-Tonner, und manche LKW sind so schwer beladen, dass sie sich im Kriechgang die Berge hochschleppen.

Leerlauf rein, auf die Bremse, und dann kühlen

Leerlauf rein, auf die Bremse, und dann kühlen

Bergab geht’s dann fast von alleine, und es wird gefahren, bis die Bremsen qualmen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn jeder Bus und jeder LKW verfügt über eine Bremsenkühlanlage, die nichts anderes macht, als auf Knopfdruck Wasser auf die heißen Bremsen zu spritzen.
Ob Busse oder Trucks, beiden gemein ist ihre Größe und physische Überlegenheit. Zusammen mit der Arroganz und Rücksichtslosigkeit der Fahrer sorgt das für heikle Situationen im Straßenverkehr. Nicht selten muss man fast bis zum Stillstand abbremsen, wenn ein LKW auf die Autobahn auffährt, oder sich in den Straßengraben flüchten, wenn ein Sattelschlepper die Kurve schneidet. Offensichtlich sind auch auf der Straße im Kommunismus nicht alle gleich.

Bereits ab einem Auto auf der Straße gilt: Höchste Wachsamkeit!

Bereits ab einem Auto auf der Straße gilt: Höchste Wachsamkeit!

Bleibt noch Gruppe drei, die stolze Kaste der Autofahrer. Das Auto als Sinnbild von Wohlstand und ‘wir-haben-es-geschafft’ – im China des Jahres 2014 ist das deutlich greifbar. Am beliebtesten scheinen lange Limousinen aus Neckarsulm, auch der Passat ist ein adäquates Statussymbol. Wenn es sein muss, tut es auch ein kleinerer VW, zur Not auch ein Toyota, und in der allergrößten Not selbst ein Koreaner. Nur chinesische Autos scheinen sich nicht wirklich gut zu verkaufen, auch wenn sie klingende Namen wie ‘Great Wall’ haben.
Hat man es endlich geschafft, vom Elektroroller- zum Autobesitzer aufzusteigen, steht man leider schon vor dem nächsten Problem: wie funktioniert das mit dem Fahren? Effektive Fahrschulen scheint es nicht zu geben, denn das ganze Land ist mit kollektivem ‘learning by doing’ beschäftigt. Millionen von ‘First generation drivers’ tasten sich über Chinas Straßen, manche übervorsichtig, manche übermütig, aber von Erfahrung, Urteilsvermögen oder einem grundlegenden Verständnis von dynamischen Situationen jenseits der 30 km/h ist nicht viel zu spüren. Und so haben sich die chinesischen Fahrer ihren Platz in der Internationalen Hall of Fame der Helden des Straßenverkehrs redlich verdient. Unsichtbare Regeln wie in anderen Ländern, die für Außenstehende wie Anarchie aussehen, aber trotzdem für einen halbwegs vernünftigen Verkehrsfluss sorgen, gibt es nicht. Jeder fährt, wie er es für richtig hält. Aber leider hält die Kompetenzvermutung nicht lange. Mit 50 Stundenkilometern auf der Überholspur fahren, weil grad ein wichtiger Anruf oder etwas Spannendes im Radio kommt? Rechts ist doch Platz für die anderen. Wenn nicht, dann sicher auf dem Standstreifen. Spurwechsel auf dem Innenstadtring von Chengdu? Bloß nicht zu früh einleiten oder ankündigen, das könnte die Verfolger verwirren. Vom Parkplatz rückwärts in den fließenden Verkehr einfädeln? Wenn die anderen nicht anhalten, sind sie doch selbst schuld. Das gleiche gilt beim Überholen. Wer hier nicht wartet, bis es unübersichtlich wird, oder alternativ bis klar erkennbar Gegenverkehr kommt, dürfte unter den Neu-Mobilen als Weichei verschrien sein.

Verkehrserziehung allerorten

Verkehrserziehung allerorten

Chinas Behörden versuchen, mit einem Wald von Verkehrsschildern erzieherischen Inhalts das Versäumte nachzuholen. Es bleibt zu hoffen, dass das funktioniert. Wenn die Chinesen im Straßenverkehr die gleiche Lernkurve beweisen wie beim Kopieren ganzer westlicher Wirtschaftszweige, wird das auch funktionieren. Aber viel Zeit bleibt nicht, bis die nächsten 100 Millionen Fahranfänger auf die Straßen strömen und aus dem Traum vom eigenen Auto ein kollektiver Alptraum wird.

Posted from Ko Pha-ngan, Surat Thani, Thailand.

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