Jenil – eine Herzenssache

Vor der Operation

Vor der Operation

Jenil ist 18 Monate alt, als er von seiner Mutter aus einem Teilort von Banjhakateri zu uns in den Health Post getragen wird. Er ist ein aufgewecktes Kerlchen, hat keine Angst vor mir. Seine junge Mutter erzählt mir, sie könne sein Herz von außen schlagen sehen, das komme ihr seltsam vor und deshalb habe sie ihn zu mir gebracht. Ich stutze, denn das habe ich noch nie von Eltern als Grund für eine Arztvorstellung gehört. Jenil sieht eigentlich ziemlich gesund aus, scheint mir nicht besonders untergewichtig, wie so viele andere Kinder hier und so vermute ich, dass die Mutter gerne einfach ein Checkup von mir als „ausländische Spezialistin für Kinder“ haben will.

Doch schon beim Abhören des Brustkorbs wird mir klar, dass Jenil tatsächlich ein Herzproblem hat. Neben den normalen Herztönen, gibt es da ein lautes Strömungsgeräusch, das auf beiden Seiten des Brustkorbs und auch vom Rücken aus unüberhörbar ins Stethoskop faucht. Bei näherer Untersuchung bemerke ich auch, dass Jenil etwas schneller atmet, als für sein Alter normal ist. Als mir die Mutter auf Nachfrage von immer wieder auftretenden blauen Lippen und häufigen bronchialen Infekten erzählt, besteht kein Zweifel mehr: Jenil hat einen angeborenen Herzfehler. Da wundert es mich auch nicht weiter, dass ich ihn deshalb als nicht untergewichtig eingeschätzt habe, weil er sowohl zu leicht, als auch zu klein für sein Alter ist. Sein Körper hat soviel Energie für die Kompensation des Herzproblems gebraucht, dass er nicht richtig wachsen konnte.

Es ist klar, dass in Jenils Fall unbedingt schnell die genaue Diagnose gefunden werden muss, denn mit so einem Herzfehler ist nicht zu spaßen, v.a. wenn das Kind immer wieder blau anläuft. Da es im Health Post momentan keinen Strom für ein Ultraschallgerät gibt, kann ich nichts weiter tun, als der Mutter zu sagen, dass sie uns nach Kathmandu begleiten soll, wenn wir wenige Wochen später wieder dorthin fahren. Ich verspreche ihr, auch aus eigenem Interesse, sie in das einzige Krankenhaus zu begleiten, das in Nepal Spezialisten für Herzprobleme bei Kindern hat, das Gangalal National Heart Centre.

Röntgen auf Nepalesisch

Röntgen auf Nepalesisch

Jenils Mutter ist sehr zuverlässig und so steht sie mit Jenil am vereinbarten Tag und zur vereinbarten Uhrzeit am Tor des Krankenhauses und winkt mir ein bißchen unsicher zu. Ich bin überwältigt von dem Bild, das sich mir dort bietet: es geht zu wie am Hauptbahnhof. Lange Menschenschlangen vor sogenannten „Ticketschaltern“, an denen für jeden Patienten eine Nummer gezogen und die Arztkonsultation bezahlt werden muss. So wird die Reihenfolge der unendlich vielen Patienten festgelegt und jedem klargemacht, wo er hinzugehen hat. Der ganze Park ist schon morgens voller Patienten und ihren Angehörigen. Die Ärzte erscheinen erst Stunden nachdem der Ticketschalter öffnet. Wir werden zu einem jungen Arzt geschickt, der bestätigt, was wir schon wissen: Jenil hat ein lautes Herzgeräusch und braucht weitere Diagnostik. Also bekommen wir einen Zettel mit den entsprechenden Untersuchungen und gehen zum nächsten Schalter: „Cashier“ steht dort… ohne vorherige Bezahlung passiert hier überhaupt nichts. Gut, dass Jenils Vater bei der Nepal Army arbeitet und damit ein geregeltes Einkommen hat. Als erstes braucht Jenil nun ein Röntgenbild. Ich bin erstaunt, dass die Eltern ohne Bleischürzen im Strahlenfeld stehen und ihren Sohn festhalten müssen. Jenil ist wenig begeistert von der Prozedur. Nach EKG und Blutabnahme hat er den ersten Tag aber überstanden. Wir sollen am nächsten Tag zur Besprechung der Ergebnisse und zum Herz-Ultraschall kommen.

Als ich am nächsten Morgen das Röntgenbild für die Familie abholen will, hält die Krankenschwester das Bild kurz ins Licht und sagt dann, dass sie es mir nicht aushändigen kann, weil sie nicht sicher ist, ob bei der Aufnahme nicht ein Fehler passiert ist. Ich kann einen kurzen Blick auf das Bild erhaschen und weiß warum: das Bild zeigt Jenils Herz auf der „falschen“, also der rechten Seite. Ich befürchte, dass kein Fehler passiert ist, sondern das Jenil einen komplizierten Herzfehler hat und sein Herz im Rahmen dessen tatsächlich auf der rechten Seite liegt.

Als wir endlich zum Ultraschall aufgerufen werden, zeigt Jenil was in ihm steckt und er denkt nicht im Traum daran ruhig zu liegen. Obwohl neben der Ultraschallliege zur Ablenkung der Kinder ein Bildschirm installiert ist, auf dem Comicfilme von Disney gezeigt werden, und Jenil bestimmt noch nie einen Fernseher bzw. Bildschirm gesehen hat, kann die Kinderkardiologin, Frau Dr. Shakya, nur wenige Sekunden lang Bilder von seinem Herzen aufzeichnen, bei denen uns beiden jedoch sofort der Atem stockt: in Jenils Herzen ist nichts wie es normalerweise sein sollte: das Herz liegt rechts, wir können auf die Schnelle nur eine Herzkammer ausmachen und ich frage mich sofort, wie er mit diesem Herzen überhaupt 18 Monate alt werden konnte. Dann ist auch schon Schluss, Jenil tobt und die Kinderkardiologin sagt: „ This is a complex one, we need him quiet.“. Also geht’s wieder zum Cashier, denn es müssen Beruhigungsmedikamente gekauft werden. In der Wartezeit bis zum Einsetzen der Wirkung stelle ich mir zum ersten Mal die Frage, ob es ein Fehler war, Jenil hier herzubringen. Was, wenn der Herzfehler so kompliziert ist, dass man nichts für ihn tun kann? Wenn die Eltern noch am gleichen Tag gesagt bekommen, dass ihr Sohn in wenigen Monaten oder Jahren sterben wird? Wäre es dann nicht besser gewesen, die Eltern bis dahin unwissend die Zeit mit ihrem Kind genießen zu lassen? Stunden später und nach einer Dosis, mit der ich wahrscheinlich 3 Tage später erst wieder aufgewacht wäre, lässt sich Jenil am Nachmittag zumindest auf die Untersuchungsliege legen. Ruhig hält er nur, weil ich ihm immer wieder die wenigen Videos, die ich von den Kindern meiner Freunde auf dem Handy habe, vorspiele.

Ich bin beeindruckt von den Ultraschallfähigkeiten von Dr. Shakya. Der Herzfehler ist wie schon vermutet sehr kompliziert und nur von einem erfahrenen Arzt genau zu bestimmen. Sie wirkt dabei sehr routiniert. Jenil hat Glück im Unglück: ein kleines anatomisches Detail, sozusagen eine Laune der Natur, hat bewirkt, dass es noch nicht zu spät ist für eine Operation. Alles in allem ist es bei der massiven Fehlbildung seines Herzens trotzdem ein Wunder, dass es ihm die ganze Zeit so vergleichsweise gut gegangen ist. Ich diskutiere kurz die Optionen mit Frau Shakya und bin überrascht, als sie sagt, dass die einzige in Frage kommende Operation hier gemacht werden könnte. Wie routiniert die Herzchirurgen und Kinderkardiologen dabei sind, weiß ich natürlich nicht und zu den jährlichen Fallzahlen will sie keine Auskunft geben. Nach wenigen Minuten drängen die nächsten Patienten zur Untersuchungsliege. Ruhe und Privatsphäre gibt es in Nepal nicht. Wir sollen am nächsten Tag zur Abschlussbesprechung wiederkommen. Zum ersten Mal bin ich froh, dass ich kaum Nepali spreche, und mich die Eltern beim Abschied nicht fragen, was bei dem Ultraschall zu sehen war.

So begleite ich die Familie am nächsten Tag mit gemischten Gefühlen zur Besprechung mit Dr. Shakya. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er die Operation unter den Bedingungen hier in Nepal überlebt, kann ich schlecht einschätzen. Ich weiß, dass seine Lebenserwartung und seine körperliche und geistige Entwicklung ohne Operation deutlich eingeschränkt wäre, aber auf wieviele Jahre kann niemand genau vorhersehen. Rechtfertigt die Chance auf deutlich mehr Lebensjahre das Risiko bei der Operation mit unter 2 Jahren zu sterben, wenn keiner sagen kann, wieviele Jahre Jenil ohne Operation noch so wenig beeinträchtigt wie bisher leben könnte? Ich bin froh nicht in der Haut von Dr. Shakya zu stecken.

Krishna, der eine sehr mitfühlende Art hat mit Patienten und Angehörigen zu sprechen, begleitet mich zu der Besprechung um die Eltern aufzufangen. Wie erwartet sind sie total geschockt, als sie von der schwierigen Diagnose erfahren. Dr. Shakja rät zur Operation und sagt, Jenil habe sonst keine Chance. Während die Eltern um Fassung ringen, bespreche ich meine Zweifel mit der Ärztin, ob Jenils Lungengefäße groß genug für die geplante Operation sind. In Deutschland würden wir eine Herzkatheteruntersuchung machen, um sicher zu sein, dass die Operation überhaupt gelingen kann. Ich erfahre, dass Herzkatheter bei Kindern hier erst ab einer höheren Gewichtsklasse möglich sind und so erübrigt sich dieser Gedanke. Die Eltern stimmen der Operation zu. Bereits am Nachmittag erfolgt die Besprechung mit dem Herzchirurgen, der in den USA ausgebildet wurde und einen kompetenten Eindruck macht. Meine zwischenzeitliche Überlegung, Jenil aufgrund der Schwere seines Herzfehlers für die Operation in die Herzabteilung nach Freiburg zu holen, in der ich arbeite, verwerfe ich als nicht nachhaltig. Die medizinische Behandlung von Kindern mit Herzfehlern ist in Nepal bis zum 15. Lebensjahr gratis, was sehr ungewöhnlich ist für ein Land, das keinerlei soziale Sicherungssysteme bietet.

Nach der Operation

Nach der Operation

Einen Monat später, am 11. April, findet schließlich die Operation statt. Ich bin zu dem Zeitpunkt auf dem Weg nach Banjhakateri. Krishna steht in engem telefonischen Kontakt mit den Eltern. Die Operation verläuft gut. Bereits am nächsten Tag wird Jenil vom Beatmungsgerät entwöhnt. Ich bin sehr erleichtert. Der anfänglich zu hohe Blutdruck, normalisiert sich bald. Leider entwickelt sich im weiteren Verlauf die Situation, dass immer wieder milchige Flüssigkeit in die Lunge läuft und Jenil seine Lungendrainage wochenlang nicht los wird. Kurz vor meiner Abreise besuche ich ihn und seine Mutter. Die beiden sind trotz des langen Krankenhausaufenthaltes guter Dinge. Jenils Mutter erzählt mir, dass sie sich sehr darüber freut, dass Jenils Zunge, Lippen und Finger jetzt nicht mehr blau sind und dass er nicht mehr so schnell atmen muss. Ihr Lächeln ist die beste Belohnung für meine Bemühungen.

One thought on “Jenil – eine Herzenssache

  1. Liebe Johanna, Lieber Michael,
    ich habe erst jetzt die “drei Schicksale” gelesen. Es geht mir ziemlich nahe, wenn du hier von Deinen Erfahrungen erzählst. Nichtsdestotrotz ist es eine enorme Leistung und erfordert bestimmt viel Einfühlungsvermögen, die Menschen in Banjhakateri so gut wie möglich medizinisch und auch psychologisch zu behandeln. Meinen großen Respekt für eure (!) Leistung dort!!
    Liebe Grüße
    Ewa

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