Sarita und Shivalal – ungebrochen

Zwei Kinder drei Gipsbeine

Zwei Kinder drei Gipsbeine

Von Shivalal, 11 Jahre, erfahre ich bereits in Deutschland während eines Besuches bei Klaus in Bremen. Klaus erzählt mir, dass der Junge sich immer wieder die Beine breche und inzwischen seine Unterschenkel schon ganz deformiert seien von den vielen Brüchen. Mit Knochenerkrankungen bei Kindern kenne ich mich nicht so gut aus, aber ich verspreche ihm, mich um Shivalal zu kümmern, sobald ich in Nepal bin.

Wenige Tage nach unserer Ankunft in Nepal ist es dann leider auch schon soweit: Bishnu ruft aus Banjhakateri an und erzählt, dass Shivalal sich wieder das Bein gebrochen habe. Dieses Mal habe er trotz Gips ungewöhnlich starke Schmerzen, so dass Bishnu befürchtet, dass sich das Bein infiziert haben könnte. Klaus und ich entscheiden, dass Shivalal nun nicht mehr in den Bergen behandelt werden kann, sondern in ein gutes Krankenhaus im Kathmandutal gebracht werden muss, um einerseits eine Knochenentzündung auszuschließen und andererseits herauszufinden, warum er sich so überdurchschnittlich häufig Knochenbrüche zuzieht. Es soll also noch eine Weile dauern, bis ich diesen netten Jungen persönlich kennenlerne, denn die folgenden Wochen verbringt er im ‘Hospital and Rehabilitation Centre for Disabled Children’ in Banepa, in der Nähe von Kathmandu.

Kurz nachdem ich in Banjhakateri meine Arbeit aufgenommen habe, wird die weinende Sarita von ihren Verwandten in den Health Post getragen. Ein kurzer Blick auf ihren linken Unterschenkel genügt um zu vermuten, dass sie sich das Bein gebrochen hat – keine unübliche Diagnose in dieser bergigen Region, in der alle Kinder jeden Tag steinige und steile Wege zur Schule und aufs Feld laufen müssen und immer draußen spielen. Als ich jedoch erfahre, das Sarita die 7-jährige Schwester von Shivalal ist und dass sie sich im vergangenen Jahr schon einmal das gleiche Bein gebrochen hat, werde ich hellhörig. Zwei Geschwister, die sich bei kleinsten Unfällen immer wieder die Beine brechen, lassen eine genetische Erkrankung als Ursache stark vermuten. Bishnu und ich beschließen, dass wir das Bein nur temporär schienen, und sie mit Schmerzmitteln versorgt in den nächsten Jeep nach Tamghas, der Distrikthauptstadt, setzen, damit dort ein Röntgenbild von dem Bruch gemacht werden kann. Unser Verdacht bestätigt sich, Sarita hat sich beim Stolpern über die Türschwelle einen der stärksten Knochen gebrochen, den der Mensch hat. Sie bekommt einen Gips und kann für die nächsten 4 Wochen nicht zur Schule gehen.

Schon wieder gebrochen

Schon wieder gebrochen

Kaum ein Monat nachdem sie den Gips los ist, sitzt Sarita erneut mit ihrem Vater vor dem Health Post. Sie war von der vorangegangenen Gipsbehandlung noch wackelig auf den Beinen und hat sich am Morgen beim Hinfallen auf ebenem Boden das andere Bein gebrochen. Vater und Tochter sind verständlicherweise niedergeschlagen. Bei der Untersuchung sehe ich mir auch das linke Bein an und stelle fest, dass der „alte“ Bruch nicht gut geheilt ist, sondern einen kleinen „Knick“ in Saritas linkem Unterschenkel hinterlassen hat; möglicherweise das erste Anzeichen, dass sich auch bei ihr – wie schon bei ihrem Bruder – eine Deformität des Knochens bildet. Bishnu erkundigt sich beim Vater, wie es Shivalal inzwischen geht, und wir erfahren, dass keine Infektion des Knochens festgestellt wurde, aber dass die Ärzte in Banepa eine Operation beider Unterschenkel vorgenommen haben, um die stark deformierten Knochen wieder zu begradigen. Ich ärgere mich als ich höre, dass keine Untersuchungen gemacht wurden, um die Ursache der Bruchanfälligkeit herauszufinden. Das war ja einer der Hauptgründe warum Klaus und ich entschieden hatten, ihn nach Kathmandu zu bringen. Mir wird klar, dass ich mich um die Ursachensuche wohl selbst kümmern muss – doch meine Möglichkeiten eine genetische Diagnose zu sichern, sind zwei Tagesreisen von jedem vernünftigen Krankenhaus entfernt und in einem Land, in dem man schon damit überfordert ist, mit den akuten Problemen zurechtzukommen, beschränkt. Sarita und ihren Vater schicken wir wieder nach Tamghas, wieder bestätigt sich der vermutete Unterschenkelbruch und wieder bekommt Sarita einen Gips.

Eine Familie mit schwerem Schicksal

Eine Familie mit schwerem Schicksal

In den folgenden Wochen nehme ich Kontakt zu Ekkehardt Lausch auf, einem Kinderarzt, Genetiker und Kollegen aus Freiburg. Er sagt, dass die wahrscheinlichste Diagnose eine milde Form von Osteogenesis imperfecta (der sogenannten Glasknochenkrankheit) ist und dass er für die Diagnosestellung meistens nur bestimmte Röntgenaufnahmen braucht. Da kommt es gerade gelegen, dass Klaus wenige Wochen später nach Nepal kommt, und ich nehme mir vor, bis dahin die entsprechenden Röntgenaufnahmen vorliegen zu haben, damit Klaus sie mit nach Deutschland nehmen und zu Ekkehardt schicken kann. Leichter gesagt als getan. Dafür muss ich erst einmal den Vater überzeugen, zwei Kinder mit drei Gipsbeinen ohne direkt sichtbaren Vorteil per vierstündiger Offroad-Jeepfahrt nach Tamghas zu schaffen. Dafür laufen Bishnu und ich eine Stunde zur Hütte der Familie. Als ich Shivalal und Sarita mit ihren Gipsbeinen ohne Bewegungsmöglichkeit vor der Hütte sitzen sehe, blutet mir das Herz schon ein bißchen. Aber Shivalal, den ich nun zum ersten Mal sehe, ist ein immer gut aufgelegter Junge, der viel lacht und interessiert zuhört, was ich dem Vater mit Bishnus Übersetzung erkläre. Sarita dagegen ist nicht so gut auf mich zu sprechen, da sie mich immer nur im Zusammenhang mit schmerzhaftem Schienen ihrer gebrochenen Beine erlebt hat. Ich bewundere die Kooperationsbereitschaft des Vaters, der sich bereiterklärt den beschwerlichen Weg nach Tamghas mit den beiden immobilisierten Kindern auf sich zu nehmen, wenn unser Verein die Kosten für Transport und Röntgenbilder übernimmt. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn als Subsistenzfarmer spitzt sich die Situation der Familie immer mehr zu, seit der Vater sich kaum mehr um seine Felder kümmern kann, da er ständig mit einem der beiden Kinder auf dem Weg zum Arzt oder wie mit Shivalal wochenlang im Krankenhaus ist. Die Mutter kann diese Aufgabe nicht übernehmen, weil sie sich um die beiden anderen Geschwister, 9 Monate und 8 Jahre, kümmern muss.

Untersuchung

Untersuchung

Am vereinbarten Tag treffen wir Sarita und Shivalal, die mit Tüchern auf die Rücken ihres Vaters bzw. Onkels gebunden sind, im Krankenhaus in Tamghas. Nach ungläubigen Blicken der Röntgenassistenten und mehrfachem Erklären, dass wir keine Röntgenbilder der gebrochenen Beine, sondern welche von Wirbelsäule und Händen der beiden Kindern haben wollen, sind die Bilder nach einer Stunde in akzeptabler Qualität angefertigt und werden zum Trocknen in den Innenhof gehängt (ein Bild, das man als junge Ärztin im Zeitalter digitaler Röntgenbilder aus Deutschland nicht kennt).

Wenige Wochen später bekomme ich eine Mail von Ekkehardt. Er schreibt, dass er keine Veränderungen auf den Röntgenbilder sehen kann, die für eine andere Knochenerkrankung sprechen würden, und man deshalb mit hoher Sicherheit davon ausgehen kann, dass die beiden tatsächlich Osteogenesis imperfecta haben. Für diese genetische Erkrankung gibt es keine Heilung, aber seit wenigen Jahren den Versuch, mit einem Medikament, das eigentlich für Osteoporose entwickelt wurde, die Bruchhäufigkeit zu senken. In Freiburg behandeln wir die Kinder mit Osteogenesis mit Infusionen dieses Medikamentes. Leider ist es als Infusion in Nepal nicht erhältlich, so dass ich entscheide, mich erstmal mit der Tablettenform zufriedenzugeben.

Wiegen beim Hausbesuch

Wiegen beim Hausbesuch

Als ich das nächste Mal nach Banjhakateri fahre, habe ich eine große Tüte Tabletten im Gepäck. Wieder geht‘s zur Hütte von Sarita und Shivalals Familie. Neben den Medikamenten tragen wir eine Waage über Stock und Stein, um das Gewicht der beiden messen und so die richtige Dosis festlegen zu können. Sarita hat inzwischen keinen Gips mehr und kann nach 4 Monaten endlich wieder in die Schule gehen. Shivalal hat nach knapp 4 Monaten immerhin nur noch Gipse bis zu den Knien (davor gingen sie bis zur Hüfte) und strahlt wie immer. Ich erkläre den Eltern die wichtigsten Dinge zu unserer Verdachtsdiagnose und kläre sie auf, dass ein 50%iges Risiko besteht, dass der 9 Monate alte Säugling bzw. jedes weitere Kind auch von der Krankheit betroffen ist. Die Eltern sind sehr dankbar, dass wir nun mit Medikamenten versuchen können, die Bruchhäufigkeit zu senken. Aber der Vater erzählt auch, dass er aufgrund der prekären finanziellen Situation der Familie in Erwägung zieht – wie soviele nepalesische Männer – zum Arbeiten nach Indien zu gehen. Vorsichtig fragt er, ob wir eine Möglichkeit sehen, Spender dafür zu finden, dass Sarita und Shivalal in Tamghas oder Kathmandu auf ein Internat gehen können, wo der Schulweg einfacher ist und sie näher am Krankenhaus sind, wenn wieder Brüche auftreten. Wir versprechen zusammen mit Klaus, unser Möglichstes zu versuchen, machen uns auf den Heimweg und hoffen auf Freunde und Bekannte.

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