Auf dem Großen Spielfeld

Zentralasien ist die Region der weiten Steppen, undurchdringlichen Wüsten und gletscherbedeckten Bergmassive. Zentralasien, zwischen Kaspischem Meer, Sibirien, China und Hindukusch gelegen, wo sich die großen Handelswege von Europa nach Asien kreuzen, ist aber auch seit jeher Fokuspunkt mächtiger geopolitischer Interessen. Eine große Zahl von Chronisten und Analysten halten diese Region und ihre bewegte Geschichte deshalb für einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis einer Vielzahl moderner Konflikte, die sich um den Zugang zu Ressourcen und die Erschließung von Märkten, um religiöse Dominanz und regionale Vormachtstellung drehen. Spannendes Territorium also für uns, landschaftlich, geschichtlich, brandaktuell.

Panj River, tadjikisch-afghanische Grenze

Panj River, tadjikisch-afghanische Grenze

Wir nutzen die Reise durch Zentralasien, um Geschichte und Geschichten dieses immens spannenden Landstrichs zu erforschen, um von Experten zu lernen und natürlich um persönliche Eindrücke zu sammeln, damit wir ganz für uns, subjektiv und befreit von Zwängen der wissenschaftlichen Genauigkeit, ein paar geschichtliche und politische Zusammenhänge herstellen können, zwischen den Ruinen von Persepolis und der Operation Enduring Freedom, zwischen dem Mongolensturm und den Prachtbauten Samarkands, zwischen Moskau, London, Washington und allem, was wir unterwegs aufschnappen und lesen. Die Erlebnisse und Erkenntnisse dieser Reise öffnen uns die Augen für einige der Bindeglieder, die die geschichtliche, kulturelle, sprachliche, ökonomische und gesellschaftliche Kette zwischen Europa und Asien darstellen, mit ihrer Vielzahl an aktuellen und geopolitischen Verästelungen. Bisher isolierte Beobachtungen auf Reisen durch die Länder Asiens, des nahen und mittleren Ostens und Europas, geschichtliche Wissensfetzen und geographisch-soziokulturelles Halbwissen lassen sich mehr und mehr in einen Zusammenhang mit aktuellen weltpolitischen Schlagzeilen und Entwicklungen bringen, der für uns ganz persönlich Sinn ergibt. Hilfreich für das Verständnis der aktuellen Lage und Konstellationen ist jedoch, keineswegs überraschend, ein kurzer Überblick über die geschichtliche Entwicklung in der Region “Greater Central Asia”.

Die persischen Achamäniden im 3. Jt. v. Chr., der Makedonier Alexander der Große, die persischen Sassaniden, die mongolische Goldene Horde, Timur der Große aus Samarkand und viele andere mehr – sie alle weiteten aus unterschiedlichen Richtungen kommend ihre Reiche in Richtung Zentralasien aus und brachten die lokale nomadische Bevölkerung in ihre Machtsphäre, wodurch sie nachhaltige sprachliche, kulturelle, architektonische und religiöse Fußabdrücke hinterließen. Im ausgehenden zentralasiatischen “Mittelalter” zerfielen die Großreiche dann, und lokale Warloards, Fürstentümer oder ‘Khanate’ übernahmen die Herschafft über strategische Punkte an Oasen, Flüssen oder Bergpässen. Weite Teile der Steppen und Wüsten, inklusive der Handelswege entlang der alten Seidenstrasse, waren jedoch vielfach unbeherrschbar und Reisende und Händler in diesen unwirtlichen Breiten ständigen Überfällen wilder Reiterclans ausgesetzt.
Warum aber wurde diese karge, bisweilen lebensfeindliche Region ohne offensichtliche Bodenschätze und fern der damals so wichtigen maritimen Handelswege von einem regionalen Schauplatz zum Zankapfel der Weltmächte und zum Spielfeld des ‘Great Games’, das seinen Nachfolger im Kalten Krieg fand?

Lake Zorkul, 1874

Lake Zorkul, 1874

Während des gesamten 19. Jahrhunderts waren das britische Empire und das russische Zarenreich in einem Wettlauf um regionalen Einfluss und koloniale Vormachtstellung in Zentralasien begriffen. Während Russland, der Legende nach dem Wunsch Zar Nicholas’ auf seinem Sterbebett folgend, sein Reich rund um den Erdball auszudehnen, eine konsequente Expansionspolitik nach Süden und Osten betrieb, in deren Verlauf es sich den gesamten nördlichen Teil des asiatischen Kontinents einverleibte, suchte das britische Empire, den ökonomisch und geostrategisch so wichtigen “Juwel in seiner Krone”, Britisch-Indien, mit allen Mitteln zu sichern und zu verteidigen. Daraus ergab sich eine Situation des ständig schwelenden und bisweilen offen aufflammenden Konfliktes zwischen den beiden Weltmächten. Generationen von Abenteurern und Entdeckern, Händlern, Reisenden, und Draufgängern, von versteckt agierenden Militärs, Spionen und Agenten waren in dieser Region aktiv, um dort die Interessen ihrer Länder und ihre eigenen Karrieren zu fördern. Wechselnde Allianzen mit lokalen Machthabern waren dabei ebenso an der Tagesordnung wie “Golddiplomatie” und offene Bestechung, Intrigen und Erpressungen, Feldzüge und Strafexpeditionen. Das Zarenreich war bei seiner Expansion im nördlichen Teil Zentralasiens allerdings deutlich erfolgreicher als die Briten im Süden, die vorrangig mit der Sicherung ihrer Kolonien auf dem indischen Subkontinent und mit der Bewältigung von Krisen anderswo im Commonwealth beschäftigt waren.

"Save me from my friends"

“Save me from my friends”

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte dann ein Land immer mehr in den Fokus des russisch-britischen Kräftemessens in Zentralasien – Afghanistan. Für die Vertreter der britischen “Foward Policy” begann die Verteidigung ihrer indischen Interessen bereits am Oxus, dem heutigen Grenzfluss zwischen Tajikistan und Afghanistan. Auf der anderen Seite war für die Falken in St. Petersburg Afghanistan das kritische Sprungbrett von Zentralasien in Richtung Delhi. Ein Wettstreit um Einfluss und Loyalität in Kabul entbrannte, in dessen Verlauf sich die dortigen Herrscher als relativ resistent gegenüber der Einhaltung verbindlicher Verträge und zuverlässiger Bündnistreue herausstellten. Die Briten behielten zwar die Oberhand, mussten sich ihre Vormachtstellung aber durch drei britisch-afghanische Kriege mit zahlreichen schmerzhaften Niederlagen teuer erkaufen.
Zur befürchteten Invasion Indiens durch die Armeen des Zarenreiches kam es zwar nie, ebenso wenig wie zum überall erwarteten offenen Krieg zwischen den beiden Weltmächten des 19. Jahrhunderts.

Wakhan Valley

Wakhan Valley

Doch durch die Ereignisse der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und vor allem mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wurden die Karten der globalen Machtverhältnisse neu gemischt und brachten mit den USA einen neuen starken Akteur auf die internationale Bühne. Die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahre 1947 besiegelte den Niedergang von drei Jahrhunderten britischer Vormachtstellung. Das Great Game zwischen britischer Krone und russischem Reich ging beinahe nahtlos in den kalten Krieg zwischen Sowjetunion und USA über. Im Zentrum des Konflikts stand nach wie vor der Zugang zu Ressourcen und regionale Hegemonie. Im Zentrum stand auch weiterhin Afghanistan, wo die Russen das Ende des britischen Einflusses in der Region geschickt nutzen, um ihre Interessenssphäre auszuweiten. Militärische Beistandsabkommen wurden geschlossen und die neue afghanische Regierung, politisch und weltanschaulich stark durch ihre Schutzmacht im Norden beeinflusst, setzte in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh. eine Reihe von sozialistischen Reformen und Gesetzesänderungen durch, die weiten Teilen der streng religiösen und traditionsverhafteten Bevölkerung zu schnell und zu weit gingen. In einer Region, in der Loyalität zum eigenen Clan schon immer wichtiger war als zur Zentralregierung, breitete sich schnell Widerstand aus. Ein Bürgerkrieg entbrannte, in dessen Verlauf die afghanische Regierung die Sowjetunion zunächst um finanzielle und materielle Hilfe ersuchte, schon bald aber den Einsatz der sowjetischen Armee forderte und damit auch erfolgreich war, gegen den Widerstand von grossen Teilen der politischen und militärischen Führung der UdSSR, die aus der amerikanischen Niederlage in Vietnam eigentlich ihre Lektion gelernt zu haben glaubte. Die Mujahedeen, Gotteskrieger gegen Regierung und sowjetische Besatzer, wurden unterstützt von einer bunten Allianz von Ländern, allen voran jedoch dem nach regionalem Einfluss strebenden Nachbarn Pakistan, dem religiös motivierten Saudi Arabien und den USA, die der Logik des Kalten Krieges folgten und keine Chance auslassen konnten, dem Gegner eine Niederlage zuzufügen. Der Abzug der Russen im Jahre 1988 beruhigte die Region jedoch nicht, sondern machte das Feld frei für weitere blutige Runden im Kampf um die Macht zwischen Herat und Kabul. Dabei kam vor allem Pakistan eine Schlüsselrolle zu, da es erfolgreich zu verhindern wusste, dass sich alle afghanischen Warloards in einen politischen Prozess eingliederten, der eine demokratische Machtverteilung zum Ziel hatte. Stattdessen wurde der interne Konflikt als Mittel zur Einflussnahme gesehen, in dessen Verlauf nach verschiedenen erfolglosen Versuchen die Taliban als bevorzugter Akteur zur Sicherung pakistanischer Interessen in Afghanistan aufgebaut wurden.

Sowjetrelikte

Sowjetrelikte

Die Entwicklungen nach 2001 sind bekannt und schnell erzählt – 9/11 und der US-geführte “War on Terror”, hinter dem wie eh und je regionale Machtinteressen, die Sicherung von Märkten und der Zugang zu Bodenschätzen stehen, und ein geplanter Abzug der Koalitionsstreitkräfte im Jahr 2014.

Der Blick in die Geschichte lässt wenig Raum für Hoffnung, dass sich die Region kurzfristig stabilisiert. Solange es Einmischung von außen in die internen Angelegenheiten der Länder Zentralasiens gibt, solange werden Konflikte am Leben erhalten oder angefacht, für die es anderweitig womöglich konstruktivere Lösungen gäbe, und die vor allem die Interessen der meist ungefragten Bevölkerung berücksichtigen würden.

Afghanischer Händler, Ishkashim

Afghanischer Händler, Ishkashim

Warum dieser große Bogen, dieser Exkurs bis nach Pakistan und Afghanistan? Auf über 700km holpriger Piste entlang der afghanischen Grenze, manchmal weniger als 50m Luftlinie von afghanischen Dörfern entfernt, hat man viel Zeit zum Reflektieren. Die paschtunischen Händler auf dem Basar von Ishkashim, mit denen wir gefeilscht und gesprochen haben, unterscheiden sich nicht wesentlich von ihren tadjikischen Cousins. Geschichte, Geographie und Gesellschaften sind isoliert betrachtet schwer zu verstehen. Alles hängt zusammen. Eines führt zum anderen. Und am Ende der Geschichte, die für uns mit Darius und Xerxes in den Ruinen von Persepolis begann, deren Spuren wir vom Mt. Nemrut in Anatolien über Merv in Turkmenistan und Bukhara in Usbekistan durch die Jahrhunderte gefolgt sind, und die uns bis auf das Spielfeld der großen russischen und englischen Spione, Entdecker und Kartographen des 19. Jahrhunderts im tadjikischen Pamir geführt hat, stand für uns die Frage, weshalb eigentlich unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird. So rückte für uns ein Land, das wir auf dieser Reise nicht betreten haben, und ein Konflikt, den wir nur aus den Medien kennen, für eine Weile in den Mittelpunkt unseres Interesses. Vielleicht war der letzte Auslöser auch, dass die tadjikischen Straßen noch immer zerstört sind von sowjetischen Panzerketten.

Leseempfehlung

  • The Great Game, 1992, Peter Hopkirk

Quellen:

  • http://en.wikipedia.org/wiki/The_Great_Game
  • Paulo DUARTE, Central Asia and the Great Games: Different Times, the Same Game?, 2012

Posted from Novopokrovka, Chuy Province, Kyrgyzstan.

2 thoughts on “Auf dem Großen Spielfeld

  1. Danke für diesen großartigen, klaren Abriss! Er wirft die beklemmende Frage auf, warum wir immer wieder dazu neigen, blauäugig glauben, dass die Politik und die Medien mit ihren Schlagwörtern – Verteidigung Deutschlands am Hindukusch – ausreichende Erklärungen für unser weltpolitisches Verständnis liefern. Weiterhin alles, alles Gute. KR

  2. Danke für diesen dichten, eindrücklichen Artikel! Vielleicht bietet sich mir mal eine Gelegenheit diesen Stoff mit meinen neugewonnen britischen Freund/innen zu diskutieren.
    Grüße aus dem Herzen des viel zitierten Nationenverbundes des “gemeinsamen Wohlstandes”!
    Maria

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