Viel haben wir in den letzten Wochen über das Fazit unserer Zeit in Nepal diskutiert. Es fällt schwer, das auf ein lesbares Maß zusammenzufassen. Wir können und wollen in den folgenden Zeilen keine umfassende Darstellung der Situation und Probleme dieses Landes geben, sondern ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein Mosaik aus unseren Eindrücken und Erfahrungen mit Euch teilen.
Die Arbeit in Banjhakateri hat sehr viel Spass gemacht. Wir konnten uns beide mit unseren individuellen Stärken gut einbringen – fachlich und persönlich. Uns ist klar geworden, wie wichtig ein umfassender Ansatz in der Entwicklungshilfe ist, und dass rein medizinische Hilfe viel zu kurz greift. Während wir vor unserer Ankunft befürchtet haben, dass Micha sich womöglich langweilen wird, hatte er schnell alle Hände voll zu tun, und unsere verschiedenen beruflichen Hintergründe haben sich sehr gut ergänzt. An bereits bestehende Ansätze des Projektes in Richtung Dorfentwicklung konnte er gut anknüpfen und mit Biogas und Kaffeeanbau neue Bereiche eröffnen. Wir hatten einen großen Gestaltungsspielraum, wurden von Klaus und dem nepalischen Team in jeglicher Hinsicht unterstützt und konnten viele unserer Ideen umsetzen.
Medizinisch gesehen habe ich viel über das Spektrum an Krankheiten unter den lokalen Lebensbedingungen gelernt. Oft war ich mit dem Problem der Nichtverfügbarkeit weiterführender diagnostischer Möglichkeiten konfrontiert, weil diese zu weit weg oder zu teuer waren. Das hat einerseits dazu geführt, dass ich gelernt habe, was man in deutschen Unikliniken nicht lernen kann: Entscheidungen allein auf der Grundlage einer körperlichen Untersuchung, der medizinischen Erfahrung und des eigenen Bauchgefühls zu treffen. Das war eine sehr gute Erfahrung für mich, von der ich sicher noch viel profitieren werde. Andererseits hatte ich oft das unbefriedigende Gefühl, dass eine ungenauere Diagnostik natürlich auch eine ungenauere Therapie zur Folge hat, und dass man oft nur symptomatische Therapie machen kann. Mit einigen Patienten musste ich im wahrsten Sinne des Wortes weite Wege gehen, um an die dringend nötigten Untersuchungen zu kommen, und ihnen dann wirklich helfen zu können (für Einzelheiten über Jenil, Jharana, Sarita und Shivalal, siehe auch ‘Drei Schicksale’). Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit den Patienten in Banjhakateri verbracht, doch mir wurde schnell klar, dass neben der täglichen Patientenbehandlung und der Weiterbildung von Bishnu im Bereich Kinderheilkunde die Arbeit an organisatorischen Strukturen des Projektes genauso wichtig und mindestens so nachhaltig ist. So haben wir zwischen unseren Aufenthalten in Banjhakateri viel Zeit in Kathmandu verbracht, recherchiert, Informationen aufbereitet und für den Health Post nutzbar gemacht, Ausstattung eingekauft und eingeführt. Wieviel davon tatsächlich in die Routine übernommen und die tägliche Arbeit nachhaltig verbessern wird, weiß ich nicht. Das hängt wohl sehr davon ab, wie überzeugend ich die Vorteile der einzelnen Verbesserungsvorschläge darstellen konnte, und wie motiviert das Team für diese Veränderung ist.
Neben unserer Arbeit in Banjhakateri haben wir einen tiefen Einblick in die Lebensrealität der ländlichen Bevölkerung in Nepal bekommen und während unserer Zeit im Dorf natürlich auch mitgelebt. So ein Leben in einer Dorfgemeinschaft, die zur Hälfte aus Kindern besteht, in der jeder jeden kennt und jeder Anteil am Leben des anderen nimmt, hat sehr schöne Seiten. Nepalis sind sehr kontaktfreudig, es ist nicht ungewöhnlich, Fremde anzusprechen und in stundenlange Gespräche zu verwickeln, Berührungsängste gibt es nicht. Wirklich schade, dass wir nicht fleißig genug Vokabeln gelernt haben, um uns über Smalltalk hinaus unterhalten zu können. Für uns “Westler” war die Langsamkeit, mit der der Alltag in Banjhakateri so vor sich geht, in gewisser Weise sehr “entschleunigend”. Tage, die mit dem Sonnenaufgang beginnen und mit dem Sonnenuntergang enden, lassen viel Zeit für Schlaf. Die westliche Informationsflut durch Internet und Fernsehen reduziert sich hier auf den Dorftratsch und unregelmäßiges Eingehen von Emails auf unseren Handys. Terminkalender spielen keine Rolle, die Menschen leben sehr im “Hier und Jetzt”, Planungen gehen selten über den nächsten Tag hinaus.
Was sich für den gestressten Mitteleuropäer verlockend anhören mag, hat hier einen negativen Beigeschmack, denn dieses kurzfristige Denken ist auch Folge von Arbeitslosigkeit, Armut, fehlenden Zukunftsideen und -perspektiven. Uns kommt es manchmal so vor, als ob das “stressärmere” Leben sich hier in eine Art “Langeweile bis zur Alkoholabhängigkeit” steigert. Alkoholismus ist überhaupt weit verbreitet, ruiniert nicht selten die Lebensgrundlage ganzer Familien, Gewalt gegen Frauen in der Folge ist ein häufiges Thema. Das kurzfristige Denken erleben wir in allen Bereichen, vom Gesundheitsbewusstsein (“wieso sollte ich mit meiner eiternden Schnittwunde heute zum Arzt gehen, solange ich die Hand morgen noch benutzen kann, an übermorgen denke ich noch nicht”), über Umweltbewusstsein (Müll wird einfach fallen gelassen wo man geht und steht oder aus dem Fenster geworfen, besonders gerne auch den nächsten Abhang herunter oder in den Fluss, immer nach dem Motto “aus den Augen, aus dem Sinn”, Batterien findet man leider in jedem Gemüsegarten, Autos und Motorräder werden in Flüssen und Seen gewaschen; die Liste ist endlos), bis hin zu Wartungsüberlegungen (Arbeitsgeräte und Fahrzeuge aller Art werden ohne Schmerzgrenze missbraucht, Wartung ist ein Fremdwort und man wundert sich dann, wenn die Dinge nach kürzester Zeit kaputt gehen). Das hat oft nichts mit fehlendem Geld zu tun, sondern mit einer anderen Haltung diesen Dingen gegenüber. Oft können wir da nur den Kopf schütteln.
Auch andere Dinge erscheinen uns bis zuletzt befremdlich. Ein Beispiel sind die bei der ländlichen Bevölkerung üblichen arrangierten Ehen. Für uns unvorstellbar, dass eine Familie nicht auf Grundlage sich liebender Eltern gegründet wird, sondern von den Eltern der Ehepartner auf der Grundlage von finanziellen Überlegungen und hinduistischem Kastendenken arrangiert wird. Als Mann mehrere Ehefrauen zu haben ist gesellschaftlich durchaus akzeptiert. Üblich ist, dass die frisch verheiratete Frau zu ihren Schwiegereltern zieht. Häufig verabschiedet sich der Ehemann kurz nach der Hochzeit zum Arbeiten in die Golfstaaten, so dass seine (dann oft schwangere) Frau alleine bei seinen Eltern zurückbleibt. Wir haben häufig das Gefühl gehabt, dass junge Schwiegertöchter im Haus der Schwiegereltern nicht gut behandelt werden und übermäßig viel für die “fremde Familie” arbeiten müssen. So wundert es uns nicht, dass die häufigste Todesursache von Frauen im mittleren Alter in Nepal Suizid ist.
Ein anderes Beispiel ist die Haltung zu Arbeit. In Nepal gibt es 52 gesetzliche Feiertage. Ob jemand (insbesondere in öffentlichen Einrichtungen) an den verbleibenden Werktagen morgens zur Arbeit kommt oder nicht, scheint im alleinigen Ermessen desselben zu liegen (wir haben beispielsweise bei vier vereinbarten Terminen mit Vertretern des Gesundheitsministeriums an keinem der Termine die entsprechende Person angetroffen). Während die Bauern in Banjhakateri oder die Ladenbesitzer in Kathmandu 365 Tage im Jahr arbeiten, ist Nichtarbeiten bei Mittel- und Oberschicht schick. Oft wird Geld, das im Ausland verdient wurde, in Immobilien investiert und man lebt dann von den Mieteinnahmen.
Effizienz und Qualität bei der Arbeit werden von Nepalis, ob im Dienstleistungsbereich oder bei Materialien und Konsumgütern, oft anders bewertet als von uns. Dies geht einher (bzw. wird überhaupt erst ermöglicht?) durch die Mentalität, sich über nichts und niemanden zu beschweren (oder ist diese Mentalität vielleicht eine Überlebensstrategie?). Ob ein ganzer Bus voller Leute warten muss, weil der Fahrer unterwegs in aller Ruhe Einkäufe erledigt, sich in einen Jeep 25 Leute quetschen müssen, damit die Freunde des Fahrers (natürlich gratis) auch noch mitfahren können, der Facharbeiter für Biogasanlagen drei Wochen lang sagt, dass er morgen kommt und mit der Arbeit beginnt, oder Trekkingführer weder den Weg noch die Namen der umliegenden Berge kennen… Was uns regelmäßig in die Verzweiflung treibt (denn auch diese Liste ist endlos), wird von den meisten nepalischen Landsleuten mit einem Achselzucken und den Worten “Nepali Time” oder “Nepali Quality” hingenommen. Manchmal haben wir das Gefühl, dass keiner kritisiert, weil er dann ja auch selbst plötzlich zu “Qualität” gezwungen wäre. Für motivierte und fähige Menschen (Einheimische wie Ausländer), die etwas für sich oder andere erreichen wollen, ist dieser Zustand natürlich extrem frustrierend. Das führt einerseits dazu, dass so viele Nepalis, die hier etwas zum Positiven verändern könnten, ins Ausland (Europa, USA) abwandern und andererseits auch dazu, dass man in einem halben Jahr freiwilliger Arbeit hier (an westlichen Maßstäben gemessen) vergleichsweise wenig erreichen kann.
Dies alles, zusammen mit der uferlosen Korruption, die einem tagtäglich auf allen Ebenen begegnet, von Banjhakateri bis Kathmandu, hinterlässt bei uns manchmal den Eindruck, dass diesem Land nicht zu helfen ist. Die engagierten Nepalis, die im Land bleiben, bringen es zu nichts, wenn sie keine “Freunde” in der Politik und der Bürokratie haben. Persönliche Seilschaften, Clans auf lokalem Level und riesige Kartelle auf nationalem Level verhindern jegliche Art von Veränderung, die ihnen auch nur eventuell einen Nachteil bescheren könnte. Da vor allem die, die irgendwie Einfluss haben, nur damit beschäftigt sind, diesen für sich und ihre Familien zu nutzen, kommen höchstens durch Zufall gute Leute in die richtigen Positionen. Im Großen führt das in Nepal zu einem ziemlich umfassenden Staatsversagen, das alle Bereiche von Bildung, über Infrastruktur (Straßenbau, Energie,…) bis hin zu Rechtsstaatlichkeit umfasst.
Durch unsere europäischen Augen gesehen, bleibt der Eindruck, dass sich in einigen grundsätzlichen Bereichen die Einstellung eines Großteils der Menschen hier verändern muss, damit eine Verbesserung der Situation für alle erreicht werden kann. Von außen kann man das wohl kaum beeinflussen. Mit kleineren Projekten lässt sich aber auf lokaler Ebene denen helfen, die den kleinsten Handlungsspielraum haben.
Sechs Monate in Nepal. Viele Eindrücke. Gemischte Gefühle kurz vor der Abreise. Wir verlassen das Land einerseits mit einem lachenden Auge, denn die vielen kleinen Veränderungen, die wir versucht haben anzustoßen, brauchen Zeit um sich zu entwickeln, und währenddessen sollten wir nicht als ungeduldige Europäer danebenstehen und frustriert sein, dass alles zu langsam geht. Wir trennen uns aber mit einem weinenden Auge von Menschen, die wir ins Herz geschlossen haben, die uns hinter die Kulissen ihrer Kultur schauen ließen und von denen wir viel gelernt haben. Wir trennen uns auch mit einem weinenden Auge von den Bergen, die uns auf unseren Trekkingtouren atemberaubende und unvergessliche Momente beschert haben. Für beide werden wir wiederkommen, das steht fest!
Es zieht uns nun zurück hinter das eigene Steuer und weiter gen Osten. Ob die Chinesen uns diesmal freundlicher gestimmt sind, werden die nächsten Wochen zeigen – es bleibt spannend!
Liebe Johanna, lieber Michael,
fast bin auch ich ein bißle traurig, dass sich nun das nepalesische „Fenster“ wohl für lange Zeit wieder schließt – so gerne hätte ich die „Fortsetzungsgeschichte“ von Jenil, Sarita und den anderen Kindern gelesen…. die wachsenden Kaffeepflanzen aus der Ferne beobachtet.
Mich berührt sehr, wie nah ihr in dieser Zeit den Menschen und ihrer Lebenssituation ward und gleichzeitig durchgängig die gesellschaftlichen Strukturen beschreibend reflektiert. Diese Spannung zwischen Nähe und Distanz habt ihr Euch und auch uns „Zuschauern“ zugemutet und das ist gut so, weil sie davor schützt, „einfache“ und schnelle Schlüsse zu ziehen.
Danke, dass Ihr uns mitgenommen habt und wir ein wenig teilhaben durften an Eurem „Nepalmosaik“.
Seid fest umarmt und auf Eurer Weiterreise behütet
Rose