Fast & Furious VIII – Himalayan Hellrace

Kapazität ist relativ

Kapazität ist relativ

In Nepal ist man dem Himmel ein Stückchen näher als anderswo. Logisch eigentlich, denn hier stehen die höchsten Berge der Welt, und weiter nach oben geht’s nirgendwo. Aber leider gibt es da noch diesen zweiten Aspekt: In so gut wie keinem Land dieser Welt ist man dem Himmel näher als hier, sobald man sich auf die Straße begibt. Zugegeben, das hängt etwas davon ab, was man persönlich nach dem Tod erwartet, und im Zweifel auch davon, wie man sich dann vor dem Jüngsten Gericht schlägt. Sei es, wie es ist, ob zu Fuß oder auf dem Fahrrad, im eigenen Auto oder im gemieteten Jeep, im Microbus oder Fernbus, die nepalesischen Straßen gehören zu den gefährlichsten der Welt, und das Risiko eines Verkehrsunfalles ist allgegenwärtig und ziemlich real: Nach einer WHO-Statistik sterben hier jährlich 1.677 Menschen je 100.000 Fahrzeugen, in Japan gerade mal sieben. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 2006 sind mehr Menschen auf den Straßen umgekommen als im zehnjährigen bewaffneten Konflikt zwischen Mao-Rebellen und Armee.

KO Travels

KO Travels

Verantwortlich ist eine verhängnisvolle Mischung aus komplexer Topografie, schlecht konstruierten und desolaten Straßen, häufigen Erdrutschen und Unterspülungen während des Monsuns, völlig unzureichend gewarteten Fahrzeugen und verantwortungslosen, pubertierenden und nicht selten angetrunkenen Macho-Fahrern, die ihre Fahrzeuge aus Profitgier hemmungslos überladen und dann mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch dieses Chaos jagen, während sie abwechselnd am Handy sind und mit einer der drei Beifahrerinnen flirten. Mafiös organisierte ‘Transport Associations’, die Monopole auf einzelne Routen haben, halten ihre schützende Hand über die Fahrer, zahlen Schmier- und Blutgelder und kämpfen mit aller Macht für den Fortbestand des profitablen Status Quo.

Traum oder Alptraum jedes Straßenbauers

Traum oder Alptraum jedes Straßenbauers

Richtig ist, dass es auch mit einem massiven Budget für Straßenbau und Infrastruktur hierzulande keine leichte Aufgabe wäre, ein adäquates Straßennetz zu bauen und zu unterhalten. Berge, Schluchten und Flüsse würden den Bau von Brücken und Tunneln in monumentalem Maßstab erfordern. Weil es nur wenige große Haupttäler gibt, winden sich die meisten Straßen als ‘Snake Roads’ an den natürlichen Faltungen der Berge entlang. Fahrzeiten und Unfallrisiko in nicht einsehbaren Kurven sind entsprechend hoch. Richtig ist aber auch, dass selbst wenn einmal eine vernünftige Straße projektiert und budgetiert ist, sie dennoch am Ende von schlechterer Qualität sein wird als geplant: Bis alle Beteiligten in Ministerium, Bauunternehmen inklusive Subunternehmen sowie lokale Wichtigkeiten genug Kommission auf die Seite geschafft haben, ist nur noch die Hälfte des Geldes übrig. Das Ergebnis sieht entsprechend aus, und bereits nach wenigen Monaten klaffen die ersten Schlaglöcher und rutschen die ersten Partien den Hang ab, weil man die Wasserröhren unter der Straße weg-korrumpiert oder schlicht gestohlen hat. Erst kürzlich stürzte eine nahezu fertiggestellte Brücke kurz vor der Eröffnung in sich zusammen. Bauunternehmer und Regierung schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Am Ende einigte man sich darauf, dass der Wind wohl einfach zu stark geweht hatte.

Größer, schneller - besser

Größer, schneller – besser

Auf den Straßen des Landes herrscht Darwinismus in Reinstform: der Größte, Schnellste und Mutigste gewinnt. Hier offenbart sich dann auch eines der großen Paradoxa Nepals: Zeit spielt eigentlich nie wirklich eine Rolle, da jeder genug davon zu haben scheint. In aller Seelenruhe warten 20 Menschen in einem restlos vollen Minibus, bis der Fahrer sich inkommodiert, den sinnfreien Tratsch mit seinen Fahrerkumpels einzustellen und zwischen 5 und 50 Minuten nach geplanter Abfahrt loszufahren. Wenn er dann allerdings auf der Straße ist, muss er die verlorene Zeit natürlich wieder aufholen und fährt, als ob sämtliche Inkarnationen der hinduistischen Hölle hinter ihm her wären, ohne Rücksicht auf Leib und Leben, geschweige denn auf den Komfort seiner zahlenden Passagiere.

Voll ist erst, wenn der Fahrer es sagt

Voll ist erst, wenn der Fahrer es sagt

Er kämpft um jeden Millimeter Hoheit auf der Straße, hupt alles weg, was kleiner oder schwächer ist oder die Frechheit besitzt, auch auf seiner Straße unterwegs zu sein, und bricht Überholmanöver erst dann ab, wenn er das Weiße im Auge des entgegenkommenden Fahrers sieht. Wenn er allerdings gerade in Gedanken an den letzten Abend versunken ist oder mal wieder vergisst, am Berg zurückzuschalten, zuckelt er im Schneckentempo über die Landstraße, um kurz vor der nächsten Kurve wieder völlig waghalsig zu beschleunigen und sämtliche Gesetze der Physik herauszufordern. Dabei dreht er schlechte Musik seiner Wahl so laut auf, dass den Fahrgästen nach kurzer Zeit das Trommelfell blutet. Er ignoriert geflissentlich, wenn um Gnade und Nachsicht gewinselt wird – sein Auto, seine Regeln. Höchstens wenn sein Telefon klingelt, stellt er die Musik etwas leiser. Glücklicherweise passiert das meist im Fünfminutentakt.

Rund. Erneuert?

Rund. Erneuert?

Die laute Musik hat einen großen Vorteil: Man hört das Klappern und Scheppern der zugrundegerichteten Fahrzeuge nicht mehr. Fehlende Wartung und schlechte Straßen hinterlassen verheerende Spuren am Material, und neben dem Komfort leidet zuallererst die Sicherheit darunter. Alle paar Meter sieht man liegengebliebene Fahrzeuge, und nicht selten sind die Insassen wie durch ein Wunder vor großem Unheil bewahrt geblieben. Wenn die Achse des Minibusses nicht auf gerader Strecke gebrochen wäre, sondern während eines waghalsigen Überholmanövers vor der Kurve am 500-Meter-Abgrund, hätte man am nächsten Tag wieder von einem tragischen Unfall mit 20 Todesopfern und unklarer Ursache in der Zeitung gelesen. Nicht immer ist aber so viel Glück im Spiel, wie ein Blick in die Unfall- und Verkehrstotenstatistik zeigt. Denn wenn etwas passiert, ist man ohnehin verloren, da schnelle medizinische Hilfe außerhalb von Kathmandu völlig ausgeschlossen ist.

Wer Vorfahrt haben will, sollte sich mit den Jungs in blau verstehen

Wer Vorfahrt haben will, sollte sich mit den Jungs in blau verstehen

Zuerst vermuteten wir, dass die Besitzer ihre Fahrzeuge nicht oder nur schlecht warten, weil Nepal ein armes Land ist und sie sich das einfach nicht leisten können. Inzwischen wissen wir es besser. Vor allem im Güterverkehr und im öffentlichen Transportwesen steckt einfach nur Profitgier dahinter. Und Gewinn machen ist einfach, das lernt man in BWL im ersten Semester: Umsatz rauf, Kosten runter. Konsequent wird hier also die Einnahmenseite maximiert, indem man Kartelle bildet und künstliche Knappheit auf den Routen herstellt, dadurch geschickterweise volle Kontrolle über Transportpreise hat, und schließlich LKW und Busse so vollpackt, dass auch mit viel gutem Willen und Gewalt nichts mehr geht. Die Ausgabenseite minimiert man am besten, indem man auf Wartung verzichtet, gefälschte statt echte Ersatzteile verbaut, wenig Schmiergeld statt viel Bußgeld zahlt und den schlechtestmöglichen Service bietet. Dann muss man sich nur noch die lästige Konkurrenz vom Hals schaffen, die unverschämterweise den gleichen Service billiger oder sogar in besserer Qualität anbieten möchte. Aber mit ausreichend krimineller Energie und guten Verbindungen zu Amts- und Würdenträgern ist das alles kein Problem. So sind hier hochprofitable Geschäftsmodelle möglich, zu Lasten der einfachen und ehrlichen Bevölkerung, die einfach nur von A nach B will und keine Möglichkeit hat, aus den Fängen dieser kriminellen Mafia zu kommen.

Mit der Transportmafia legt sich niemand gern an.

Mit der Transportmafia legt sich niemand gern an.

Auch die Industrie und der Handel hat ein großes Problem mit den Transportkartellen: Eine Studie fand heraus, dass 24 dieser Kartelle den Gütertransport in Nepal kontrollieren und durch Preisabsprachen einen volkswirtschaftlichen Schaden von mehr als 65 Millionen USD pro Jahr verursachen. Interessanterweise (aber wenig überraschend) sind führende Politiker an profitablen Transportunternehmen beteiligt, und die meisten politischen Parteien sind finanziell auf Spenden der Kartelle angewiesen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die kriminelle Energie und Straflosigkeit hierzulande weiter reicht, als man sich vorstellen möchte. Man erzählt uns von einer besonders verabscheuenswürdigen Praxis der Kostenminimierung: Angeblich setzen Busfahrer nicht selten nochmal zurück, wenn sie jemanden angefahren haben. Das fällige Blutgeld ist geringer, wenn das Opfer noch am Unfallort stirbt, statt lebenslang versorgt und gepflegt werden zu müssen.

Öffentlicher Jeep in Gulmi

Öffentlicher Jeep in Gulmi

Wir hatten in einem halben Jahr hier nur drei Fahrer, zu denen wir uns wieder ins Auto setzen würden. Alle anderen waren entweder völlig geistesgestört oder inkompetent oder beides. Leider war das besonders bei den Jeepfahrern in Gulmi der Fall. Und da man sich als Europäer deutlich schneller beschwert als Nepalis das üblicherweise machen, legten wir uns bei unserer letzten Reise nach Banjhakateri so richtig mit dem Fahrer an. Allerdings war das natürlich erst möglich, als er die Musik so leise gedreht hatte, dass er uns überhaupt verstehen konnte. Zuerst mussten wir mehr als eine Stunde warten, bis er überhaupt losfuhr. Mit 18 anderen Passagieren im Jeep wohlgemerkt. Einer seiner Kumpels war anscheinend noch nicht da. Nach Krishnas Intervention fuhr er dann los. 20 Leute im Jeep, das Dach voller Reissäcke, darauf fünf weitere Passagiere, und außen auf dem Trittbrett ein paar Kumpels. Bei der Polizeikontrolle sprangen alle runter und liefen ein Stück, um nach der nächsten Kurve wieder aufzusitzen. Dann über Stock und Stein, der Jeep neigte sich durch die spektakuläre Überladung und Dachlast in jeder Kurve gefährlich Richtung Abgrund. Der Kragen ist uns dann schließlich geplatzt, als sich einer seiner Coolio-Kumpels auf die Motorhaube setzte, um dort mitzufahren. Der Fahrer meinte nur lapidar, dass er auch mit halbem Sichtfeld fahren könne, da er ja schon vier Jahre Fahrpraxis habe.

Ganesh, steh ihnen bei!

Ganesh, steh ihnen bei!

Zugegeben, ein wenig überspitzt ist dieser Artikel schon formuliert. Aber kein Mensch hat einen so abgrundtief schlechten Service verdient, schon gleich nicht die Armen, die sich nicht wehren können. Die Machenschaften der Transportkartelle sind wesentliches Hemmnis für die Entwicklung des Landes, und die Unfallstatistiken sprechen Bände. Auf jeder Fahrt außerhalb der Städte hat man selbst mit solider Entwicklungslanderfahrung mindestens eine Nahtoderfahrung. Unter Garantie sieht man auch mindestens einen Unfall, sei es ein umgekippter Gaslaster, ein abgestürzter LKW oder ein havarierter Microbus, dem im besten Fall nur die Achse gebrochen ist. Und wenn die Verkehrsdichte in Zukunft nur ein wenig zunimmt, dann wird es gemeingefährlich, da dann beim Überholen in der Kurve mit Sicherheit ein Auto, Bus oder Laster entgegenkommen wird. Da kann dann nur noch Ganesh helfen, halb Mensch, halb Elefant, Beschützer der Reisenden.

Man kann diesem Land nur wünschen, dass sich gesunder Menschenverstand, Moral und Ethik in gleichem Maße und in gleicher Geschwindigkeit verbreiten wie die Raubkopien des neuesten Bollywood-Hits.

Quellen, weiterführende Infos und abschreckende Beispiele:

Posted from Kathmandu, Central Region, Nepal.

One thought on “Fast & Furious VIII – Himalayan Hellrace

  1. Auch wenn du, Michael, beim letzten Skypen schon viel von der verheerenden Transportmöglichkeit und euren vielen Erlebnissen auf allen Fahrten erzählt hast, liest es sich im Nachhinein schrecklich, wie marode und korrupt das Transportsystem ist, und gleichzeitig aber bin ich dankbar, dass ihr beide dieses halbe Jahr – transporttechnisch gesehen – mit heilen Knochen überstanden habt! Mögen euch sämtliche Schutzengel auch, wenn ihr jetzt bald wieder mit eurem eigenen Auto fahren könnt, auf all euren Wegen begleiten!
    Alles Liebe und Gute,
    deine Mama

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